Tonys Weihnachtsstern
Tony war kaum auf der
Welt, da verließ sein Vater die kleine Familie. Er wollte ein freier
Mann sein, und nicht für eine Familie sorgen. Tonys Mutter Monika musste
schauen, wie sie alleine mit dem Kind zurechtkam. Tony entwickelte sich
gut, war ein braves Kind, das seiner Mutter viel Freude machte. Ehe er
sich versah, wurde er schon eingeschult.
Es war sein großer Tag,
stolz trug er die große Schultüte, die prall gefüllt war. Seine Mutter
tat alles, um ihn nicht spüren zu lassen, dass er ohne Vater aufwuchs.
Nun
konnte sie sich Arbeit suchen, denn das liebe Geld reichte weder vor
noch hinten. An den Vormittagen verkaufte sie frisches Obst und Gemüse
auf dem Wochenmarkt. In der Küche stand jetzt immer eine Obstschale mit
frischen Früchten.
Eines Tages geschah es. Mutter lernte einen
Mann kennen. Er war Busfahrer und hieß Karl. Bald darauf zogen sie in
sein Haus. Tony hatte die Mutter jetzt nicht mehr für sich alleine. Wenn
Karl von der Arbeit kam, war sie in der Küche mit Essenkochen
beschäftigt. Früher war es die Zeit, in der sich seine Mutter intensiv
mit Tony beschäftigte. Sie hatten viel Spaß beim Würfelspiel, oder sie
gingen Schwimmen. Manchmal dachte Tony: "Wie kann ein fremder Mann mir
meine Mutter wegnehmen, oder hat sie mich nicht mehr lieb? Die Mutter
spürte, dass Tony unglücklich war. Sie gab sich Mühe, ihrem Sohn viel
Aufmerksamkeit zu schenken, doch ihm reichte es nicht. Karl sorgte gut
für ihn und seine Mutter, doch Zuwendung konnte er von Karl nicht
erwarten. Er war nicht in der Lage, die Vaterrolle zu übernehmen. Sie
kamen sich nicht näher.
Tony begleitete die Mutter gerne zum
Einkauf. An diesem Tag war es sehr warm und schwül. Die Mutter hatte bei
solchem Wetter oft Atembeschwerden, darum trug sie stets ihr
Asthmaspray bei sich. Tony gab sich Mühe, mit Mutter den langsamen
Schritt zu halten, er alleine lief viel schneller.
Endlich hatten
sie den Rückweg geschafft. Als sie gerade den Hausflur betraten, brach
die Mutter bewusstlos zusammen. Tony war in großer Not. Er weinte nicht
sondern schrie: "Mama, was ist mit dir, bitte mach doch deine Augen
auf!"
Karl war bei der Arbeit und der Junge total hilflos. Er
rannte auf die Straße und schrie: "Hilfe, meine Mama liegt am Boden!"
Dann rannte er wieder zu ihr, schüttelte sie, und versuchte mit seinen
kleinen Fingern ihre Augen zu öffnen.
Die Nachbarin hatte Tonys Hilferufe gehört, benachrichtigte die SMH, die kurz darauf seine Mutter ins Krankenhaus fuhr.
Tony
blieb bei der Nachbarin, die unverzüglich seinen Stiefvater Karl
benachrichtigte. Bevor Karl eintraf, bekam Tony die schreckliche
Nachricht, dass das Herz seiner Mutter aufgehört hatte zu schlagen.
Tonys Schmerz war unermesslich. Nun stand er alleine da.
Karl gab
ihm zu verstehen, dass er nicht für ihn sorgen werde. Außerdem sollte
Tony in den Keller ziehen, wenn er weiter in diesem Haus wohnen wolle.
"Dann sehe ich ihn wenigstens nicht so oft", dachte Tony trotzig. Also
trug er das Wenige, was er besaß, in den Keller. Hier standen ein altes
Bett mit fleckiger Matratze und der alte Holzofen seiner Mutter.
Von
seinem Großvater hatte er eine Mundharmonika und einen alten Hut
geerbt. Tony wünschte sich, dass Großvater jetzt bei ihm wäre. Den Hut
drehte er auf seiner Hand und sprach zu sich selbst: "Inzwischen bin ich
dreizehn Jahre alt und kann für mich selbst sorgen."
Entschlossen
zog Tony am nächsten Tag los. In die Schule ging er nicht mehr, dafür
stand er nun Tag für Tag am Marktplatz und musizierte. Vor ihm lag
Großvaters alter Hut.
Die Leute auf der Straße sahen ihn mitleidig
an, ab und zu warf jemand ein Geldstück in seinen Hut. Bevor es dunkel
wurde, machte er sich immer auf den Heimweg. Wenn er zu Hause ankam,
schmerzten seine Füße in den ausgetretenen Sandalen. Müde wusch er sich
in der Waschküche und setzte sich aufs Bett. Er leerte seinen Hut und
begann die Einnahmen zu zählen. Diesmal würde sie für Brot, Butter und
ein wenig Speck reichen. Er ließ sich auf sein Bett fallen und dachte
darüber nach, wie viele Abende er bisher hungrig eingeschlafen war.
Mit
dem Herbst begann Tonys schwerste Zeit. Aber er hatte es kommen sehen
und einiges an Geld gespart. Die trüben Regentage verbrachte er im
Keller, den er nur verließ, um Brot zu kaufen. Nun schmolz sein
Erspartes schneller dahin als er geglaubt hatte.
Doch die
Adventszeit kam und es ging wieder aufwärts. Der Weihnachtsmarkt war
eröffnet, genau dort, wo Tony immer musizierte. Auf dem Weihnachtsmarkt
herrschte Trubel. Die Menschen waren großzügiger und freundlicher als
sonst, da fiel auch schon mal eine größere Geldmünze in seinen Hut. Der
Duft von Bratäpfeln und gebrannten Mandeln erinnerte Tony an
glücklichere Zeiten in seinem Leben, an Mutter und seinen geliebten
Großvater. Sie fehlten ihm so sehr.
Tony war aufgefallen, dass
immer zur Adventszeit ein Stern am Himmel erschien, der besonders groß
und hell leuchtete. Zudem blinkte er in unterschiedlichen Abständen.
Nach Weihnachten war er erloschen. Er dachte immer an Mutter und
wünschte sich, dass sie dieser Stern sei, der auf ihn acht gäbe. Tony
spielte diesmal so lange auf seiner Mundharmonika, bis er seine Füße
nicht mehr spürte, seine Lippen taub und seine Hände blau wurden.
Dieser
vierte Advent kam und sollte Tonys Leben eine Wende geben. Vier Tage
blieben noch bis Heiligabend, dann kam die schmerzlichste Zeit, die er
am liebsten verschlafen hätte. Doch Tony stand wieder an seinem Platz,
als ein gut gekleideter Fremder mit seiner Frau und drei Kindern vor ihm
stehen blieb. Er sah Tony lange ins Gesicht und legte ihm einen großen
Geldschein in den Hut mit den Worten: "Du brauchst dringend Winterschuhe
und warme Strümpfe, nach drei Tagen werde ich wieder nach dir sehen."
Die Familie ging ihres Weges, aber die Kinder drehten sich nach ihm um
und winken ihm zum Abschied.
Bei sich zu Hause holte der Mann
seine Fotoalben aus dem Schrank. Seine Frau setzte sich zu ihm und
fragte: "Martin, kommt dir der kleine Mundharmonikaspieler nicht auch
bekannt vor?" Martin sah seine Frau nachdenklich an und sagte: "Ja,
Britta, sieh dir diese Fotos an, dieser Musikant könnte wirklich Tony
sein! Ich habe ihm in die Augen gesehen und diese Augen kann ich nicht
vergessen, es sind die gleichen wie die von Monika!" "Ja, und wie die
von dir!" Martin war sich fast sicher, dass dieser Junge sein Neffe Tony
war. "Britta, wenn dieser Junge wirklich der Sohn von Monika ist, dann
können wir nicht zulassen, dass er auf dem Marktplatz musiziert!"
"Martin,
hast du gesehen, wie schmal der Junge aussah? Wir sollten ihn sehr bald
zu uns holen!" Martin fasste einen Entschluss: “Morgen bin ich auf
Dienstreise, aber danach werden wir Tony bei uns aufnehmen. Er gehört
schließlich zur Familie."
Als Tony im Laden gegenüber warme
Stiefel und Wollsocken gekauft hatte, gab es keinen glücklicheren
Musikanten auf dieser Welt als ihn. Er blickte zum Himmel, und der Stern
leuchtete heller als je zuvor. Dann bemerkte er einen fremden Mann
neben sich. Seine Hände waren tätowiert und er hatte eine Glatze. Der
Fremde stellte sich zu Tony in den hellen Sternenschein.
"Willst du
wissen, was der Stern dir zu sagen hat?" "Ja, unbedingt! Kannst du denn
seine Zeichen deuten?", fragte Tony neugierig. "Ja", sprach der
Glatzkopf, "der Stern sendet Morsezeichen, als Seemann musste ich alle
lesen und senden können."
Für Tony war das so spannend, dass er
kaum abwarten konnte, endlich zu erfahren, was es mit dem Stern und dem
Lichtkreis auf sich hatte. Der Fremde sah starr zum Himmel, er sagte:
"Der Stern hat eine Botschaft für dich; deine Mutter liebt dich und das
Glück wird dich finden!" Dann war der Fremde auf einmal verschwunden.
Wie benebelt trat Tony seinen Heimweg an, er konnte nicht begreifen, was
er erlebte.
Zuhause vor der Haustüre wartete Karl auf ihn: "Ein
Brief vom Jugendamt ist gekommen. Morgen besucht dich ein Herr Reiter,
der mit dir über die Schule sprechen möchte. Ist wohl dein
Schuldirektor. Ihm wurde gemeldet, dass du schon lange nicht mehr am
Unterricht teilgenommen hast!" Tony wurde bleich und fragte: "Was
passiert denn jetzt mit mir, muss ich ins Heim?" "Das weiß ich doch
nicht!", antwortete Karl gleichgültig.
Tony ging in den Keller. Er
wusste, dass er von diesem Mann keine Hilfe zu erwarten hatte. Er legte
sich aufs Bett und grübelte: "Wenn ich liebe Pflegeeltern bekäme, dann
hätte ich nichts dagegen von Karl wegzukommen, sollte ich aber in ein
Heim gesteckt werden, laufe ich weg."
Herr Reiter war pünktlich.
Karl führte ihn in den Keller zu Tony. Freundlich reichte er dem Jungen
seine Hand und kam direkt zur Sache. "Tony, ich weiß, du hast Schlimmes
erfahren müssen. Solche Erlebnisse können einen jungen Menschen wie
dich, aus der Bahn werfen. Zur Schule musst du aber trotzdem gehen.
Zurzeit sind Weihnachtsferien, aber danach musst du wieder zum
Unterricht! Außerdem kannst du in diesem Kellerloch nicht bleiben. Es
wäre besser, du würdest von einer Pflegefamilie aufgenommen werden. Nach
Weihnachten, du wirst sehen, wird alles gut." Tony nickte nur! Der Mann
verabschiedete sich und ging.
Am nächsten Morgen bevor die
Geschäfte ihre Türen öffneten, war Tony bereits in der Stadt. Er hatte
ja jetzt Stiefel und Socken an den Füßen, aber seine Hose war
durchlöchert. Auf warmen Füßen stand er den ganzen Tag auf dem
Marktplatz. Das Geschäft lief heute nicht so gut, aber es langte fürs
Essen. Am Abend stellte er seine neuen Stiefel neben sein Bett und
schlief zufrieden ein.
Am Morgen waren die Stiefel verschwunden.
Weinend fragte er Karl danach, der grinste Tony an: "Ach, die Dinger
musste ich verkaufen, sonst hätte ich meine Spielschulden nicht
begleichen können." Tony war traurig und wütend zugleich.
Drei
Tage waren vergangen, wieder stand Tony in kaputten Sandalen auf dem
Marktplatz. Es war Heiligabend und sein Herz blutete, als er die vielen
Kinder an den Händen ihrer Eltern vorbeigehen sah.
Jemand legte
einen Arm um seine Schulter. Tony drehte sich um und sah den
freundlichen Fremden. Der lächelte ihn an und sagte: "Tony, pack deine
Sachen zusammen, du kommst mit mir!" "Aber ich kenne Sie doch gar
nicht!", antwortete er. "Doch, wir kennen uns, nur wirst du mich
vergessen haben, alles andere erfährst du später bei uns zu Hause!" Tony
fuhr mit. Was hatte er schon zu verlieren? Schlechter als bei Karl wird
es ihm nicht ergehen können.
An der Haustüre warteten schon die
Kinder auf ihn. Tony wurde freundlich aufgenommen. Für ihn war alles
vorbereitet; ein eigenes Zimmer, neue Kleidung, sogar das erste
Wannenbad seit langem. Nachdem er gründlich gebadet hatte, wartete im
Esszimmer der Rest der Familie auf ihn.
An den Wänden hingen
zahlreiche Fotos und Tony stockte der Atem. Auf einem der Fotos war
seine Mutter mit den Großeltern abgebildet. Die Großmutter hatte einen
kleinen Jungen auf ihrem Schoß. Tony bemerkte nicht, dass er beobachtet
wurde.
"Tony, der kleine Junge auf dem Foto, dass bin ich, dein
Onkel Martin. Deine Mutter war meine Schwester Monika. Erst vor kurzem
habe ich erfahren, was geschehen war und für uns stand fest, dass wir
für dich da sein werden." Tony fragte mit zittriger Stimme: "Warum warst
du nicht da, als es meiner Mutter so schlecht ging?" "Ich bin
Archäologe und war lange Zeit zu Ausgrabungen in Ägypten; nun bin ich
aber wieder hier! Auch wusste ich nicht, dass sie wieder verheiratet war
und auch nicht mit wem”, versuchte Martin die bedrückte Stimmung zu
lockern.
Martins Frau brachte Getränke. "Ja! Tony, meine Frau ist
deine Tante Britta, dann hast du noch zwei Cousinen, Nina und Mona und
Cousin Chris. Wir sind, wenn du möchtest, deine neue Familie. Ich sah
dich auf dem Markt. Du bist meiner Schwester wie aus dem Gesicht
geschnitten, aber sicher war ich mir nicht. Da habe ich Erkundigungen
über dich eingezogen und dann ging alles recht schnell."
Für Tony
kam so viel Glück auf einmal vor wie ein Traum. Nach langer Zeit durfte
er wieder ein schönes Weihnachtsfest erleben in Wärme und Geborgenheit.
Von diesem Tag an verlief sein Leben in geordnete Bahnen. Er wuchs zu
einem fleißigen, jungen Mann heran.
Seinen Weihnachtsstern sah Tony nie wieder, aber er wusste, hoch da oben, da ist Mutter und passt auf ihn auf.
Autor: Cilia Bless